Gedenkrede zum Volkstrauertag 2016 am Gedenkstein in Ende

In dieser Spannung stehen wir heute hier: Volkstrauertag und die Unfähigkeit zu trauern! Es geht darum, die Trauer nicht als einen Akt periodischer Selbstverständlichkeit zu praktizieren, sondern sich die Fähigkeit zur Trauer erst mühsam zu erarbeiten. Trauerarbeit ist nicht
ein rituelles Wiederholen des ewig Gleichen, schon gar kein deplatziertes Heldengedenken, sondern Trauer bedarf immer der Entwicklung der Fähigkeit zu trauern! Trauer ist ein seelischer Vorgang, in dem wir einen schmerzlichen Erinnerungsprozess durchzuarbeiten lernen, um danach zu einer Neugestaltung lebendiger Beziehung fähig zu werden. Das gilt auch für ein ganzes Volk.

Es geht also um Erinnerung und Durcharbeitung der Vergangenheit statt um Vergessen ohne Trauerarbeit. Denn Vergessen heißt immer, die Fernwirkungen der Geschichte nicht anerkennen. Und diese Fernwirkungen sind bis heute spürbar, in den letzten Jahren auch in
unserer Gesellschaft dramatisch zunehmend spürbar.

Eine totale Abwehr der Vergangenheit, ein Überspringen eines zeitgeschichtlichen Raumes hindert uns daran, falsche von wahren Traditionen zu unterscheiden und ihre fatalen Wirkungen auf unsere Zeit zu erkennen. Wir können nicht einfach neu anfangen, ohne die Vergangenheit durchzuarbeiten, denn auch die Nachkommen leben in ihrem Schatten. Es besteht für uns die Verpflichtung zur Wahrheit statt einer Verdrängung der Wahrheit!

Als Schüler des Ruhr-Gymnasiums in Witten, dessen Postadresse damals Kurze Straße lautete, habe ich während meiner gesamten Schulzeit nicht erfahren, dass dort bis zur Reichspogromnacht eine Synagoge gestanden hat. Heute heißt die Kurze Straße in Erinnerung
daran Synagogenstraße. Hier findet an jedem 9. November eine Gedenkveranstaltung statt, die von Schülerinnen und Schülern des RGW gestaltet wird.

Ich vermag nicht zu beurteilen, ob es in Herdecke ähnliche Beispiele gibt. Es ist aber allgemein so gewesen, dass der Prozess des Erinnerns und der Trauer, dieser Prozess des trauernden
Durcharbeitens einer wahrhaft traurigen Vergangenheit, sicher auch durch die Unfassbarkeit des Grauens und die Ungeheuerlichkeit des Versagens, bis in die 80er Jahre hinein gebraucht hat, um sich überhaupt Raum zu verschaffen.

Wenn wir heute am Volkstrauertag in diesem Sinne gedenken, dann denkt der eine vielleicht an den Verlust eines Menschen aus der Generation der Vorfahren, ein anderer an den schmerzlichen Verlust der angestammten Heimat, ein dritter an in anderer Weise erfahrenes
oder anderen Menschen zugefügtes Leid. In jedem Fall werden wir in den großen Geschichtszusammenhang hineingenommen, nicht im Sinne kollektiver Schuld, aber im Sinne kollektiver Verantwortung.

Das kann man schön daran lernen, wie das Judentum seine Geschichten erzählt und wie es die Nachgeborenen in diese Geschichten hineinstellt. Das Ursprungsereignis jüdischen Glaubens ist die Befreiung der hebräischen Sklaven aus Ägypten. Das Judentum feiert diese Befreiung am Passafest. Jeder Jude, der das Passafest feiert, soll sich so erachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen. Gemäß der Haggada hat somit jede Generation ihren Auszug aus Ägypten. Das ist ein schöner Brauch fortwährender gelingender Erinnerung.

Warum, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger ist das für uns heute wichtig? Die Generation derer, die den Krieg erlebt haben, stirbt aus. Das hat zur Folge, dass es nur noch wenige gibt, die lebendiges Zeugnis über die Geschehnisse der damaligen Zeit ablegen können. Das kann die fatale Konsequenz haben, dass die Nachwachsenden sich über diese Generation hochmütig erheben, weil man selbstverständlich alles ganz anders und alles richtig gemacht hätte. Das kann auf der anderen Seite zur Folge haben, das Geschehene zu leugnen oder zumindest zu verharmlosen.

Wie kann es sein, dass sich in ganz Europa und eben auch in Deutschland eine nationalistische Stimmung breitmacht, die demokratische, soziale, wirtschaftliche und politische Errungenschaften in unerträglicher Weise diffamiert? Wie kann es sein, dass Lüge gepaart mit Dummheit sich so vieler Menschen bemächtigt, dass sie einen solchen Hass auf andere Menschen entwickeln, dass sie Mauern bauen, Zäune aufstellen und sogar auf andere Menschen schießen wollen? Wie ist es zu erklären, dass junge Menschen einem System nachtrauern oder seine Wiederherstellung anstreben, das politisch, wirtschaftlich, militärisch und vor allem moralisch auf der ganzen Linie gescheitert ist?
Dieser Gedenkstein mahnt uns zu der klaren und unmissverständlichen Botschaft: Nie wieder!

Ich versuche meinen Schülerinnen und Schülern immer zu vermitteln, dass meine Generation und ihre erst recht, bei allem, was es immer zu kritisieren, auch hart zu kritisieren gibt, in einer einmalig privilegierten Zeit leben dürfen. Siebzig Jahre keinen Krieg in einem, bei allen Schwächen, unvergleichlichen Wohlstand hat keine Generation in Deutschland vor uns erlebt.Auch daran muss gerade am Volkstrauertag erinnert werden.

Diese demokratische, wirtschaftliche und soziale Erfolgsgeschichte war aber, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gerade im Ruhrgebiet nur möglich durch die Zuwanderung von Menschen aus anderen Regionen und fremden Kulturkreisen, Menschen mit anderen Traditionen und teilweise einer anderen Religion. Integration mahnt immer einen Prozess der Veränderung der ganzen Gesellschaft an. Das Europa offener Grenzen ist in diesen 70 Jahren ein Raum des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands geworden. Das ist das Verdienst der europäischen Idee. Diese Idee ist in den letzten Jahren verblasst und wird heute aggressiv von einer nationalistischen Idee angegriffen, die wieder Mauern und Zäune errichten will. Der ehemalige französische
Staatspräsident Francois Mitterand hat, schon vom Tode gezeichnet, 1995 vor dem europäischen Parlament gewarnt: Nationalisme, c’est la guèrre! Der Nationalismus bedeutet Krieg! Keiner der Zuhörer damals hat wohl nur ahnen können, welch fröhliche Urstände der Nationalismus
20 Jahre später feiern würde.

Nationalisme, c’est la guèrre! Der Nationalismus bedeutet Krieg! Seine Worte sollten uns heute Mahnung sein! Es ist deshalb unser Auftrag, diesen Narrativ von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit weiter zu erzählen, diese europäische Idee wieder mit neuem Leben zu erfüllen.

Eine Erweiterung des Gedenkens am heutigen Volkstrauertag fordert deshalb von uns auch einen Blick auf die Flüchtlinge und auf das Elend in vielen Teilen der Welt. Welchen Ausdruck findet unsere Trauer dafür, dass das Urlaubsparadies Mittelmeer sich in ein Massengrab für Menschen verwandelt hat, die die Flucht aus Afrika über das Meer nicht überleben? Was bedeutet es, dass weniger Flüchtlinge zu uns kommen, aber dadurch die Zahl der Flüchtlinge weltweit ja nicht geringer geworden ist? Welche Scham findet bei uns der Umstand, dass Flüchtlinge gewaltsam angegriffen und ihre Unterkünfte angezündet werden, die meisten übrigens in 2015 in NRW? Das Elend dieser Welt kommt uns nah und fordert uns zum Bedenken und Gedenken heraus.

Martin Luther, von dem in diesen Tagen so viel die Rede ist, hat die Bibel zum Maßstab christlichen Handelns gemacht. „Ich bin ein Fremder und ihr habt mich aufgenommen“, sagt Jesus. Wer sich der Fremden und der Menschen auf der Flucht erbarmt, steht in der Nachfolge Jesu.
Nicht Pegida verteidigt das vermeintliche christliche Abendland, sondern die vielen Menschen in den Städten und Gemeinden, auch hier in Herdecke, die sich um Flüchtlinge mühen, sie verteidigen wahrhaftig christliche Werte. Und diejenigen, die keine Christenmenschen sind, die können genau dasselbe auch mit Immanuel Kant und seinem Kategorischen Imperativ tun. Oder noch einfacher ausgedrückt:dafür reicht es doch, nur ein anständiger Mensch zu sein.

Wir sind also gut beraten, bei allen Risiken und aller Zukunftsangst, eine sich aus positiven Erfahrungen speisende Lebenszuversicht für die Zukunft unserer Gesellschaft zu haben. Jedenfalls ist diese Zuversicht trotz allem naheliegender als die Miefigkeit eines altmodernen Nationalismus.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es geht deshalb gerade angesichts der aktuellen Situation nicht nur um Trauer, es geht nicht nur um Gedenken, es geht nicht nur um Erinnerung, sondern es geht darum, dass Trauer, Gedenken und Erinnerung uns heute Lebenden zum Vermächtnis werden!
Es gibt keine Zukunft ohne weltweite Gerechtigkeit, es gibt keine Zukunft ohne ein befriedetes Zusammenleben der Völker im gemeinsamen Haus Europa und auch weltweit, es gibt keine Zukunft ohne die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen!

Es gibt keine Alternative für Deutschland:
Wir müssen Demokraten sein!