Rede zum Volkstrauertag 2017 am Mahnmal in Kirchende

Pastor Dr. Horst Hoffmann, SPD-Mitglied im OV Ostende, hält die Gedenkrede zum Volkstrauertag 2017 am Gedenkstein in Ende

Pastor Dr. Horst Hoffmann, SPD-Mitglied im OV Ostende, hält die Gedenkrede zum Volkstrauertag 2017 am Gedenkstein in Ende

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

 

auch wenn ich im letzten Jahr hier schon geredet habe und dem einen und der anderen vielleicht bekannt bin, möchte ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Horst Hoffmann. Von Beruf bin ich evangelischer Pfarrer und versehe meinen Dienst als Berufsschulpfarrer am Mulvany Berufskolleg in Herne.

Die Evangelische Kirchengemeinde Ende hat mich gebeten, heute anlässlich des Volkstrauertages hier am Gedenkstein eine Rede zu halten. Ich komme dieser Bitte als Bürger dieser Stadt gerne nach.

Wir stehen heute an diesem Mahnmal und halten die Erinnerung wach, wie schrecklich der Krieg und wie kostbar der Frieden ist. Dass der Frieden der beständigen Pflege bedarf, das gilt kaum irgendwo mehr als in Europa. In unseren Tagen stellt sich das oft so dar, als sei die europäische Einigung ein beliebiges Thema. Die Sondierungsgespräche der Jamaika-Parteien in Berlin hingegen summieren die damit verbundenen Kosten und behandeln das Thema – jedenfalls für die Öffentlichkeit wahrnehmbar – nur in einer Fußnote. Dabei ist es unverzichtbar, geschichtliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen und auch Fehlentwicklungen nicht zu verschweigen. Nur in dieser, oft auch schmerzlichen Erinnerung lässt sich Zukunft gestalten. Dazu gab es in diesem Jahr reichlich Gelegenheit.

500 Jahre Reformation wurden landauf landab in ungezählten Veranstaltungen gefeiert. Vom Jahre 1517 sind wichtige und wegweisende Impulse ausgegangen. Von daher ist es richtig und wichtig, dieses Datum würdigend in den Blick zu nehmen. Bedenklich ist, dass die Erinnerung an dieses Ereignis weitgehend auf die Person Martin Luthers und damit auf Deutschland beschränkt bleibt.

Schon damals aber gab es Köpfe, die die Reformation als eine europäische Reformation verstanden haben. Der europäische Reformator war der Franzose Johannes Calvin, der eine halbe Generation später, auf den Schultern des Wittenbergers Luther und des Züricher Reformators Zwingli stehend, dann doch der Reformation noch einmal ganz andere wegweisende Impulse verliehen hat. Diese haben ebenso in der Geschichte und in der europäischen Gesellschaft ihre Wirkung entfaltet.

Diese Beschränkung reformatorischer Erkenntnisse auf die Person Martin Luther und auf die Kirche in Deutschland hat schwerwiegende Auswirkungen gehabt. Im lutherischen Konfessionalismus hat sich daraus so etwas wie eine theologische Leitkultur entwickelt.

In der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934 ist nach den Worten ihres Hauptverfassers, des Schweizer Theologen Karl Barth, der Versuch unternommen worden, die seit der Reformation wirkmächtigen Irrtümer zu benennen und zu bekennen. Und dabei stand das düsterste Kapitel deutscher Geschichte, dem wir an diesem Gedenkstein nicht entgehen können, noch bevor.

In der Sitzung des neuen Rates der EKD im Oktober 1945 in Stuttgart erschien dann plötzlich eine Delegation aus der Ökumene. Der Rat war gefordert, ein Wort zu sagen. Und schon hier zeigte sich, dass die Schuld-Frage über den weiteren Fortgang entscheiden würde. „Durch den Nationalsozialismus ist unendlich viel Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“ sollte formuliert werden. Nur durch den massiven Widerspruch Martin Niemöllers wurde der Text geändert: „Durch uns ist unendlich viel Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“.

Am 8. August 1947, also vor 70 Jahren, verabschiedete der verbliebene Bruderrat der Bekennenden Kirche das „Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes“. Das Wort analysiert unter der wiederkehrenden Formulierung „Wir sind in die Irre gegangen“ schonungslos die begangenen Irrtümer.

Die Darmstädter Thesen sind der offenbare Versuch, die Wurzel der politischen Schuld und der Verirrung des deutschen Volkes konkreter und tiefer zu erfassen. Es wundert also nicht, dass gerade die exponierte Betonung der Schuldfrage in den konservativen Kreisen schärfsten Protest hervorgerufen hat. Es bestand 1947 nicht die geringste Aussicht, sich ein derartig konkretes Schuldbekenntnis abzuringen. Otto Dibelius, 1. Ratsvorsitzender der neu gegründeten EKD rief aus: „Die Westmächte suchen jetzt nur noch Verbündete und keine Schuldigen mehr!“

Darüber hinaus begann man schon in diesen frühen Zeiten, nach der Schuld der anderen zu fragen, der Engländer, der Franzosen und vor allem der Sowjetunion. Schon hier zeichnete sich die Jahrzehnte währende Strategie ab, die Leiderfahrungen des eigenen Volkes gegen die eigenen Untaten aufzurechnen und damit die Einmaligkeit der Schuld des deutschen Volkes gegenüber dem Judentum und den Ländern, in denen die Wehrmacht grässliche Gräuel angerichtet hatte, zu relativieren.

Es war die Schuldfrage, die in der Politik und auch in der Kirche in diesen Zeiten die Geister schied. Sie verschloss so den Blick auf das, was sich in der Nachkriegszeit wieder an Irrwegen durchsetzte. Das Darmstädter Wort sieht die Schuld der Kirche in ihrer fortwährenden Bindung an die konservativ-reaktionären Kräfte, Armee, Großgrundbesitz und Großindustrie. Die Kirche hat sich der Revolution von unten immer in den Weg gestellt, während sie der Diktatur von oben nicht gewehrt hat. Sie hat den ökonomischen Materialismus der marxistischen Lehre diffamiert und so die Not der Arbeitenden und Arbeitslosen übergesehen. In der Nachkriegszeit verewigt sich dieser Irrweg im Ost-West-Konflikt mit Militärseelsorgevertrag, atomarer Bewaffnung und Antikommunismus.

 

Europa neu denken, das heißt heute zunächst mal dieses, die eigenen Irrwege der Vergangenheit, auch der jüngeren Vergangenheit, zu erkennen und zu bekennen. Das Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes ist ein Bußruf zur Umkehr – wir sind in die Irre gegangen!

Nur eine schonungslose Analyse und Erkenntnis der Irrwege eröffnet dann neue Wege, um anzuknüpfen an die positive Wirkungsgeschichte dieses Wortes. Zu erinnern ist an die Ost-Denkschrift der EKD, aber auch an die Friedensbewegung in Ost und West, an die Eine-Welt-Bewegung und an den von der Reich-Gottes-Hoffnung inspirierte Einsatz für eine soziale Demokratie in Europa.

 

Zur positiven Wirkungsgeschichte des Darmstädter Wortes gehört ebenso die Aktion Sühnezeichen, eine Organisation, die das Moment der Schuld im Namen wieder aufgenommen hat, um durch Versöhnungsarbeit in den von Deutschen überfallenen Ländern sich der Schuldfrage aktiv zu stellen. Die Anerkennung der Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen steht am Anfang des Gründungsaufrufs. Er wurde 1958 bei der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland verlesen und von zwei Dritteln ihrer Mitglieder unterzeichnet.

„Wir Deutschen, heißt es darin, „haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und damit mehr als andere unmessbares Leiden der Menschheit verschuldet. Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, hat nicht genug getan, es zu verhindern.“

In der Überzeugung, dass der erste Schritt zur Versöhnung von der Seite der Täter und ihrer Nachkommen zu gehen sei, baten die Sühnezeichen-Gründer „die Völker, die von uns Gewalt erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun“ – zeichenhaft, als Bitte um Vergebung und Frieden.

Von evangelischen Christen ins Leben gerufen, verstand sich Aktion Sühnezeichen von Anfang an als ökumenisch und weltanschaulich offen. Wer sich dem Gründungsaufruf verpflichtet fühlt, ist zur Mitarbeit eingeladen.

 

Die Aktualisierung des Darmstädter Wortes heißt also zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur die Herausforderung eines neuen Ost-West-Konflikt, sondern auch eines Nord-Süd-Konflikts. Unvorstellbare Armut und unvorstellbares Elend, Kriege und Bürgerkriege haben eine Flüchtlingsbewegung in Gang gesetzt, die man noch zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts für eine unrealistische Fiktion hielt. Naturkatastrophen bisher unvorstellbaren Ausmaßes zeugen von einem bevorstehenden Klimawandel, so oft er auch geleugnet werden mag. Die bisher auf diese Entwicklungen gegebenen Antworten stehen nahtlos in der Tradition der Irrwege, die im Darmstädter Wort beklagt werden.

Dass auch in unserer Gesellschaft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, wird unwidersprochen als ein gesellschaftliches Fatum hingenommen. Obwohl jeder wissen kann, dass das nicht gutgehen wird.

 

Darmstadt hinterlässt den Auftrag: Einsatz für den Frieden, Ablehnung der Massenvernichtungsmittel, Arbeit für Versöhnung, Ablehnung des schrankenlosen Gebrauchs politischer und wirtschaftlicher Macht, Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Engagement für die Idee eines demokratischen und sozialen Europa sowie die Praxis eines fairen Handels mit den Ländern Afrikas und Asiens.

 

Es heißt auch den Einsatz gegen rechtsextremes Gedankengut und seine Sprache. Wenn Menschen entsorgt werden sollen, erinnert das an die Sprache des Unmenschen, der um des gesunden deutschen Volkskörpers willen lebenswertes von lebensunwertem Menschen unterscheiden zu müssen meinte.

Wer meint, die Heldentaten deutscher Soldaten im 2. Weltkrieg hervorheben zu müssen, muss und wird auf unseren Widerspruch treffen. Wehren wir den Anfängen! Es gibt keine Alternative für Deutschland! Wir müssen Demokraten sein!

 

Wir sind für unser Land, für den europäischen Kontinent, für die Eine Welt, für uns, für unsere Kinder und Enkelkinder einer Kultur des Friedens und der Menschenrechte zutiefst verpflichtet. Im Gedenken heute begleiten wir alle diesbezüglichen Bemühungen mit großer Sympathie, mit unserer Schaffenskraft und in der Freiheit eines Christenmenschen mit unserem Gebet.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit!